Zögernd und vorsichtig schritt sie zu dem großen Spiegel, der an der Wand hing und betrachtete durch die schmalen Sehschlitze die fremde Frau, die eben noch sie selber war.
Zuerst blickte sie nur starr geradeaus, verwundert, dass diese Kleidung und erst recht die Maske auch ihre Körperhaltung formten. Aufrecht stand sie da, wie eine dieser Puppen aus den Modejournalen des 19. Jahrhunderts.
"Seltsam", dachte sie , "die Maske ist weder schwer noch eng". Ruhig hob und senkte sie den Kopf, um ihr begrenztes Gesichtsfeld zu erweitern. Wie würdevoll sie wirkte, jetzt, wo nicht jeder ihrer verhuschten Gedanken sich sofort in ihrer Mimik spiegelte und ihre Angst und Unsicherheit im Ebenmaß der Maske verschwand.
Die Maske selbst zürnte nicht, sie lächelte nicht und bot damit alle Möglichkeiten, ihren Körper sprechen zu lassen.
Sie übte das huldvolle Heben der rechten Hand, winkte leicht mit der linken. Mit ausgestrecktem Arm forderte sie den einen auf Distanz und befahl auf der anderen Seite jemanden näher.
Sie spielte dieses Spiel zuerst langsam, dann im immer rascheren Wechsel und mit jeder Geste wuchs ihre Macht. Sie spürte, dass sie Boden unter den Füßen hatte, einen festen Stand. Selbst wenn sie die Augen schloss, blieb die Wirkung bestehen.
Wie hatte sie das all die Jahre übersehen können? Ihr wurde gleichzeitig heiß und kalt. Ja, sie lebte mit Masken zusammen, mit Larventrägern in ihrem eigenen Haus. Nun kannte sie das Geheimnis, jetzt schreckte sie niemand mehr. Sie würde ebenbürtig sein und jedem alles mit gleicher Münze heimzahlen. Sie spürte den wohligen Schauer von Wut und Hass in sich aufsteigen.
"Vergeltung" lachte sie diabolisch in ihre Maske und riss sie mit einem Ruck herunter.
Ein Blick in den Spiegel hätte gezeigt, dass die Maskenstarre jetzt in ihr Gesicht gebrannt war.
Ursula Kerber