Spät im Oktober

Frühmorgens ist die Welt verhüllt im dicken grauen Nebel. Lass besser Tür und Fenster zu, sonst schwappt er noch ins Haus. Auch Stunden später scheint gewiss: heute wird es nicht
mehr hell.

Dort, wo der Nebel lange klebte, bilden sich dicke Wassertropfen. Sie rutschen ohne Hast nach unten, bevor sie mit hellem Ton zerspringen. Die Nebelschwaden werden langsam lichter. Das Mittagsläuten ist vorbei, da endlich kommt die Sonne durch. An filigranen Spinnennetzen glitzern jetzt die Tropfen, zerrissene Fäden schwingen hin und her. Der Essigbaum trägt Feuerzungen, gelb-rot geflammt. Die Birken lassen honiggelbe Blätter federleicht zu Boden wirbeln. Rotahorn, -buche, -eiche bieten leuchtend den Beweis, dass der Herbst ihnen den rechten Namen gab. Der Eibisch reckt fast kahle Zweige in die Höhe, gekrönt mit prallen Knospen, die aber keine Blüte mehr erleben werden. Noch gibt es reichlich Früchte in den Zweigen, noch winken viele Gräser mit gefüllten Ähren. Die Bauernhortensie färbt sich zum Abschied elegant, graugrün bis aubergine. Die letzten Blumen dürfen sorglos blühen, Sommeransprüche stellt niemand mehr.

Und immer wieder Abschied nehmen, die letzte Clematis, Dahlie, Aster, Ringelblume oder Rose, Routine wird das aber nie. Die Sonne weckt noch einmal Kräuterdüfte von Lavendel, Quendel, Thymian und Salbei, leichter Modergeruch weht mit hinein. Der Boden trägt schon seine Blätterdecke, jeden Tag wächst das Polster für den langen Winterschlaf.

Ich müsste vorbehaltlos danken für den leichten Frühling, den vollen Sommer und den reichen Herbst. Doch unbescheiden denke ich: "Bitte noch einen solchen Tag und vielleicht noch einen - oder mehr sogar."

Ursula Kerber   


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Engel gesucht

Jetzt suchen sie wieder.
Im ganzen Land oder vielleicht gar weltweit über Äther oder Satellit.
Sie suchen Engel, den Engel des Jahres.
Und jeder ist gefragt.

Hilfreiche Nachbarn, trotz Stress lächelnde Verkäuferinnen, freundliche
Kollegen, alle können Engel werden. Wenn sie jemand vorschlägt.

Sie suchen jedes Jahr. Für die engelhaften Wochen im Dezember, jeden Tag einen,
außer sonntags.

Jetzt suchen sie wieder, stündlich, und erhalten massenhaft Engelberichte.
Es gibt tatsächlich mehr Engel, als gebraucht werden.
Eine Jury muss entscheiden.
Jeder Engel-Vermittler hofft natürlich auf seinen Sieger-Engel.
Das ist höchste Spannung.
Welche engelhaften Taten werden wir in diesen Tagen erfahren?
Was wird uns überraschen, rühren, sprachlos machen?

Engel, für jeden Tag einen, außer sonntags und ein Engel des Jahres.
Bekannt im ganzen Land oder vielleicht gar weltweit.
Im Radio.

Und die Verlierer?
Sie atmen auf und bleiben weiter Mensch.

Ursula Kerber   


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Trostbrief an eine keltische Frau

Liebste Freundin!

Gestern ist Deine kleine Tochter weggegangen in Räume, die Du jetzt noch nicht betreten kannst. Du spürst die Kälte Deiner Hilflosigkeit und die Hitze Deines Zorns über dieses Leid. Ich kann dich nicht trösten und Du wirst auch keinen Trost annehmen, der nicht aus Dir selber entspringt. Meines Mitgefühls aber darf ich Dich versichern. Du weißt, Dein Schicksal heute gleicht dem meinen, wenngleich ich durch die Zeit getröstet scheine. Wie gerne wollen wir unseren Kindern unsere Welt vermitteln, weitergeben, vererben, was uns wichtig ist. Doch unsere Geschicke lenken nicht wir selbst. Vielleicht mag ein Gedanke dich doch trösten, der mir barmherzig war. Du hast Deiner Tochter die Wohnung bereitet hier in diesem Dasein, nun ist sie gegangen und schafft neue Rüume für Dich. In Euren Gedanken und Träumen seid Ihr Euch gegenseitig Gäste und Ihr wisst, auch das ist nur ein Übergang.

Liebste Freundin, verbirg die Tränen nicht. Sie reinigen Deine Augen und machen die Seele leicht. Ich sehe Dich im Licht.

Deine Sena


Ursula Kerber   


Dieser Text entstand anl. einer Schreibwerkstatt "Spurensuche - Briefe in die Vergangenheit", Idee und Leitung: Dorothee Anton, im Archäologiepark Museum Belginum Morbach und wurde am Ursprungsort, Lesung 11.11.07, erstmals veröffentlicht.


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Eine zeitlose Frau

Wir haben wieder einige sehr schöne Modelle für Sie, wird sie von der Inhaberin des Modehauses begrüßt. Zeitlos, genau Ihr Stil.
Ja, hier weiß man schon seit vielen Jahren, was diese Kundin wünscht. Sie ist der Typ zeitlose Frau, nie topp-modisch, nie altmodisch, angenehm ausgewogen eben.

Auf dem Nachhauseweg in der Fußgängerzone befällt sie eine seltsame Unruhe und in ihren Schläfen pocht es: zeitlos, zeitlos, zeitlos. Ihr wird schwindlig, sie umklammert ihre Einkaufstasche.
Nur kein Aufsehen erregen, denkt sie und rettet sich zum Stuhl eines Straßencafés. Als sie ein Wasser bestellt, erscheint ihr ihre Stimme unwirklich, als käme sie von weit her.
Zeitlos, flüstert sie und merkt, wie ein Kichern in ihr aufsteigt.
Zeitlos, zeit-los, z-e-i-t-l-o-s.
Sie beginnt zu lachen und fühlt sich befreit und leicht wie noch nie. Sie schließt die Augen und breitet die Arme aus.

Fühlen Sie sich nicht gut? fragt besorgt eine junge Frau und legt ihr beruhigend die warme Hand auf die Schulter.
Ganz im Gegenteil, antwortet sie strahlend. Seit heute bin ich eine zeitlose Frau!




Ursula Kerber   


erstmals veröffentlicht in "Die Zeit schlägt. Alle"
Texte zur Lesung der Wortflechterinnen am 08.10.05, Idar-Oberstein